Seit November 2015 besteht das von der Robert Bosch Stiftung geförderte Denkwerk-Projekt „Sprachliche Heterogenität (Französisch): Ego-Dokumente im Ersten Weltkrieg“. In diesem Rahmen arbeiten Schüler und Lehrer des Ottheinrich-Gymnasiums in Wiesloch, des Bunsengymnasiums in Heidelberg und des Leonardo da Vinci Gymnasiums in Neckargemünd mit Wissenschaftlern, Doktoranden und Studierenden des Romanischen Seminars der Universität Heidelberg zusammen. Die Schülerinnen und Schülern erhalten so einen Einblick in ein aktuelles Forschungsgebiet im Bereich der französischen Sprachwissenschaft.
Verschiedene Varietäten des Französischen
Im schulischen Spracherwerb wird der normgerechten Vermittlung der modernen Sprache breiter Raum eingeräumt. Dabei wird „normgerecht“ in zahlreichen Lernsituationen im Fremdsprachenunterricht mit der Vermittlung der Standardnorm identifiziert. Ebenso relevant für den Erwerb einer Fremdsprache ist es jedoch auch, Lerner immer wieder dafür zu sensibilisieren, dass die Sprache ein komplexes Diasystem unterschiedlicher Varietäten ist. Die Vielfalt sprachlicher Realisierungen sollen die Schüler durch die Analyse von Ego-Dokumenten, d.h. von Tagebuchauszügen oder von Briefen und Feldpostkarten, die Soldaten und ihre Familien während des 1. Weltkriegs austauschten, kennenlernen. Die Briefe und Feldpostkarten stammen überwiegend aus dem Raum Elsass-Lothringen und liegen bisher nur als Manuskripte vor.
Arbeiten mit Ego-Dokumenten
Die Arbeit mit Feldpostkarten, Briefen sowie Tagebuchauszügen im Original von Schreibern aus weniger privilegierten sozialen Schichten soll zum einen das Bewusstsein der Schüler für die Sprache von demographischen Mehrheiten fördern, die über Jahrhunderte nur in eingeschränktem Maße an der schriftlichen Kommunikation beteiligt waren, zum anderen den Schülern aber auch auf der inhaltlichen Ebene in ausgewählten Einzeltexten vor Augen führen, wie die Situation des Krieges und seines trügerischen „Alltags“ von den verschiedenen Schreibern wahrgenommen wurde. Die Palette der Eindrücke reicht hier von der bewussten Konstruktion einer normalen Familienkonversation – weit entfernt von jeglicher Kriegsrealität – über Informationen zu den täglichen Verrichtungen der Soldaten.
Authentische Schriftstücke „kleiner Leute“
Die Integration authentischer Sprachzeugnisse des 20. Jahrhunderts in den Unterricht erweitert die behandelten Sprachstände um einen Sprachzustand, der von der unmittelbaren Lebensrealität der Schüler entfernt ist, zu dem sie dennoch durch ihr kulturelles und historisches Vorwissen einen Bezug herstellen können. So lernen sie die Auswirkungen des 1. Weltkrieges sprachlich aus anderer Perspektive, der der „kleinen Leute“, kennen. Die Autoren der Texte sind zwar des Lesens und Schreibens kundig, zugleich handelt es sich jedoch um wenig geübte Schreiber, da sie ihren Alltag weitgehend ohne den Einsatz von Schrift bewältigten. Viele von ihnen sind Bauern oder Handwerker, deren Lebenssituation vor Ausbruch des Krieges weder ausgedehnte Briefwechsel noch das Führen von Tagebüchern vorsah.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Bei der Arbeit mit historischen authentischen Textzeugnissen wird deutlich, wie wenig geübte Schreiber Texte konstruieren, um bestimmte Inhalte und Emotionen im Krieg zu kommunizieren. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Fach Geschichte fördert das Erkennen sprach- und soziohistorischer Zusammenhänge. Zugleich werden die Schüler für die deutsch-französische bzw. europäische Geschichte sensibilisiert.